Trauerkultur im öffentlichen Raum I

 

Beim Autofahren höre ich gern NDR 90,3. Die Musik vertreibt die Eintönigkeit des Fahrens und ich kriege so manches mit, was in HH los ist. An einer roten Ampel horche ich auf: der NDR hat 315 Leute gesucht und gefunden, die anlässlich des 55 jährigen Gedenkens an die HHger Sturmflut im Februar 1962 die Namen der 315 Todesopfer vorlesen. Die ersten Namen rauschen noch an mir vorbei. Die altmodischen Vornamen „Ernestine“ z.B. (so hieß meine leibliche Großmutter, die schon 30 Jahre vor meiner Geburt an Speiseeisvergiftung gestorben ist) signalisieren: diese Menschen hatten bei der Sturmflut schon ein langes Leben hinter sich.
Dann erwischt es mich kalt: Andreas B. 2 Jahre alt…..
Und dann 5 Kinder mit demselben Nachnamen, 4,6,7,8,9 Jahre alt. Mein Gott, wie lebt man mit so einer Tragödie weiter als Eltern, als Großeltern? Ich war 6 bei der Sturmflut, an Bilder aus dem Fernseher (wir hatten schon einen!) erinnere ich mich nicht (ich durfte nur einmal die Woche „Lassie“ gucken), aber an Ingo, der kurz darauf ins Nachbarhaus einzog und in meine Klasse kam, denn seine Familie hatte ihr Zuhause in Wilhelmsburg bei der Sturmflut verloren.
Eine Tragödie, prägend für die Stadt, prägend für das Leben vieler Menschen, prägend für die politische Karriere von Helmut Schmidt.
Erneut Lebensgefahr, Trauer und Verlust in einer Zeit, wo die Kriegserinnerungen unter der Oberfläche des tatkräftigen (im wahrsten Sinne des Wortes) Verdrängens noch sehr virulent sind.
Brüchig ist es dieses Wirtschaftswunder: die Verletzlichkeit allen Lebens hautnah spürbar. Heute wieder, wo manch zittrig-berührte Stimme aus dem Radio bei den Kindern und Jugendlichen stockt, genauso wie bei den mehrfach auftretenden Familiennamen; bei Familie P. sind 3 Generationen ausradiert.
55 Jahre nach dieser Katastrophe wird im Gedenken Geschichte und menschliches Leid lebendig und mutig im öffentlichen Raum gestaltet unter reger Beteiligung ganz unterschiedlicher Menschen, die alle gemeinsam Trauerkultur leben, wie ich es mir wünsche. Und ich denke:
„Was für eine wunderbare Aktion des NDR!“

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