Spurensuche II

Frau M. fragt mich nach einem Trostmoment, ob es eine Art Trauerfeier für einen Menschen geben könnte, der schon lange tot ist und nie bestattet wurde. Meine erste Verwirrtheit legt sich durch ihre Geschichte:
1945 ist die Großmutter irgendwo auf der Flucht aus Ostpreußen gestorben und einfach am Straßenrand liegen gelassen worden. War der Boden gefroren oder Eile angesagt, sie weiß es nicht. Die eigene Mutter war als Kind dabei und erzählt es der Tochter und ein Leben lang träumt diese nun von dieser unbekannten Oma, die irgendwo tot am Wegesrand liegt.
Als Kind hatte sie nachgefragt, wie das angehen kann, dass ein Mensch kein Grab bekommt? So wie die Oma kein Grab bekommen hat, bekommt sie keine Antwort.
Das lässt sie ein Leben lang nicht los. Gespräche mit der Mutter sind nur ganz ansatzweise möglich und was sie als Kind spürt, wird als Erwachsene zur Gewissheit: da sind noch ganz andere Traumata unter einer dünnen Schicht des angeblichen Vergessens verborgen. Die Mutter verdrängt das Erinnern. Sie braucht diesen Selbstschutz.
Nun ist die Mutter gestorben und der Weg zur Großmutter ist frei. Ein Weg auch in die eigene Kindheit.
Ein Weg der Versöhnung. Gerne geh ich ihn mit und wir gestalten ein Trauerritual mit starken christlichen Elementen: denn das soll sie gewesen sein, die Großmutter, tief verwurzelt in ihrem evangelischen Glauben.
Frau M. besucht Kaliningrad und bringt Heimatsand und –erde mit. Eine Wunde beginnt zu heilen. Im Jahr 72 Jahre nach Kriegsende ist seine Zerstörungskraft noch in der 3. Generation zu spüren.
3 Wochen später finde ich in dem Jahresheft „Totensorge“ ein Kapitel „Totengeister“:
“….meist handelt es sich um Verstorbene, die einen sogenannten schlechten Tod gestorben sind: plötzlich, unvorbereitet, zur falschen Zeit (vor allem zu früh), am falschen Ort. Manchmal wurde kein Totenritual für sie vollzogen……Ein unbefriedeter Totengeist findet keine Ruhe und verursacht Störungen und Leiden bei den Lebenden, besonders in seiner Familie.“*  Gut, dass der unbefriedete Totengeist der Großmutter nun zur letzten Ruhe gelegt werden konnte. Frau M. wird’s leichter ums Herz: nicht nur die Gedanken an die Großmutter und ihr Schicksal kommen in ihr zur Ruhe, sondern auch die Trauer um die Mutter wiegt nicht merh

*in: Totensorge, Jahresheft der Zeitschriften Demenz, Praxis Palliative Care und Praxis Pflegen, Hrsg.: Birgit Heller, 2013

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