Predigt 2.5: Aus Nächstenliebe auf Abstand gehen

Wie blicken Sie hier und jetzt zurück auf die Monate des Lockdowns? Sind Sie gut durch gekommen?
Und nun, wo es sich anfühlt, als käme -eventuell- bald der 2te Lockdown: sind Sie vorbereitet? Oder sitzt Ihnen der Schrecken noch in den Knochen? Manch Eine/Einer, gerade ältere Menschen,
hat richtig Angst davor. Wie waren diese Monate, eingesperrt zu Haus? Mit wenig Bewegungs-freiheit?
Für uns alle eine schwierige Zeit: Familien z.B. aufgerieben zwischen home-office und Kinderbetreuung, zwischen Schularbeiten und alle Mahlzeiten gemeinsam zu Haus!!
Was für eine Umstellung!! Immer aufeinander hocken. Manchmal lagen die Nerven blank, angeblich sollen in dieser Zeit die Scheidungsraten gestiegen sein!!? Aber es gibt auch ganz andere Zahlen: Paare -meistens die ohne Kinder- hatten wieder mehr Zeit füreinander, sind sich wieder nähergekommen als sonst im stressigen Alltag, hatten wieder mehr Sex!
Vielleicht war es   -neben der großen Einsamkeit in den Pflegeheimen-   für die „mittelalterlichen“ Singles am Schwierigsten: kein Ausgehen, Freunde treffen, keine Möglichkeit zu „daten“, keine Berührungen, keine menschliche Nähe, kein wortloser Trost, dadurch dass einen einfach mal eine/r in den Arm nimmt. Wer noch ins Büro konnte, war froh…..die im home-office waren 2 Monate isoliert in den eigenen 4 Wänden.  2 Monate häusliche Isolation, seit diesem Frühjahr haben wir alle eine irgendwie geartete Vorstellung, wie sich das anfühlt.

Häusliche Isolation: davon handelt unser Predigttext heute! Seit Jahrzehnten begleitet mich das Schicksal der blutflüssigen Frau aus dem Evangelium, ein klassischer Text der feministischen Theologie, doch in diesem Corona-Jahr ist er mir noch mal ganz neu und dicht unter die Haut gegangen!! 2 Monate haben wir alle durchgemacht und diese Frau ist seit 12 Jahren eingesperrt in den eigenen 4 Wänden. 12 Jahre!! Durch ihre Krankheit, die an ein gesellschaftliches Tabu rührt, den Blutfluss einer Frau, ist sie abgeschnitten von Allem: von Gesprächen und Tanz, Freundschaften und Hobbys, Arbeit und Beruf, Miteinander in Familie und Gemeinde.
Niemand nimmt mehr von ihr Notiz. Schon lange ist sie versunken in Einsamkeit und Bedeutungslosigkeit. Ein Mensch mit Würde und Persönlichkeit ist sie nicht mehr, höchstens noch Gegenstand von Klatsch und Tratsch. Typisch dafür: ihren Namen (Synonym für Individualität) überliefert die Bibel nicht. Identifiziert wird sie nur über ihre Krankheit.

12 Jahre verkrochen in Schmerz und Einsamkeit, Vieles in ihr ist abgestorben, doch eines nicht: diese unendliche Sehnsucht nach Berührung, nach Berührt werden! Eine Sehnsucht, die auch ich mehr denn je nachvollziehen kann in diesen Corona-Zeiten, denn auch ich lebe allein und halte Abstand, selbst von meinen Liebsten: Mutter, Sohn, Schwiegertochter….. Anstatt Nähe: 1 Meter 50
Anstatt Berührung: ein Kick mit dem Ellenbogen oder Fuß

Unsere namenlose Frau aus dem Lukas-Evangelium ist auch zu Abstand verdonnert, aber die Sehnsucht in ihr quillt gewissermaßen über und forciert einen Aufbruch, wie er stärker und mutiger nicht sein kann!! Sie hat von Jesus gehört und was sie gehört hat, ist wie ein Anker für ihre Sehnsucht und so wagt sie es aufzubrechen, das Haus zu verlassen und in der Menschenmenge heimlich Jesus zu berühren.
Sie weiß genau, was sie braucht: berührt werden!! Körperlich. Geistig. Seelisch. Tief im Herzen. Auf dem Grund ihrer Seele. Ohne Berührung kann ihr Leben nicht weitergehen.

Ich denke an zahlreiche Fernsehformate, in denen Menschen interviewt wurden, wie sie durch diese Corona-Zeiten kommen. Was sie so machen, was für Strategien sie haben, was sie als das Schwierigste empfinden…….Und immer wieder klingt in mir nach, was sie sagen: auf die Berührungen zu verzichten ist das Schlimmste…..
– kein Knuddeln mit den Enkelkindern,
– kein in den Arm nehmen,
– keine Hand, die einen streichelt…tröstet….die eigene Hand drückt…

Geht das überhaupt? “trösten“ ? ohne Berührung, habe ich mich gefragt bei einem Fernsehbeitrag zum Welthospiztag vor 11 Tagen.

Und ein alter theologischer Text von dem Priester Willhelm Willms fiel mir ein, der mich in den 80ger Jahren, auf meiner ersten Pfarrstelle intensiv begleitet hat.
Er heißt „die Nähe eines Menschen“ und fragt u.a.:
wussten Sie schon,
dass die Nähe eines Menschen
gesund machen kann?
wussten Sie schon,
dass die Stimme eines Menschen
einen anderen Menschen wieder aufhorchen lässt,
der für alles taub war?
dass das Wegbleiben eines Menschen
sterben lassen kann?
dass das Kommen eines Menschen
wieder Leben lässt?
wussten sie das alles schon?
Dass das Tun eines Menschen
wieder sehend machen kann?
Einen, der für alles blind war?
Der keinen Sinn mehr sah in dieser Welt
und in seinem Leben?

Die Aufzählung geht noch weiter und landet dann bei den Wundern, die geschehen durch Jesu Nähe.
Durch die Nähe eines Menschen, der keine Berührungsängste hat, der rausgeht zu den Menschen, egal ob sie krank sind, oder gesellschaftlich geächtet oder schuldbehaftet oder ….oder…oder

Das Leben Jesu ist für mich ein Synonym für das Nah-Sein, was wir Menschen brauchen, damit es uns gut geht. Und Corid-19 hat dieses Nah-Sein auf den Kopfgestellt! Plötzlich macht Nähe krank. Kann Nähe krank machen. Plötzlich gilt ein anderes Bekenntnis:
„Aus Nächstenliebe auf Abstand gehen“!! —  Wie Kinder und Jugendliche es in einer Braunschweiger Kirchengemeinde zusammen mit einer Kunsttherapeutin farbenprächtig ausgedrückt haben:
„aus Nächstenliebe auf Abstand gehen“!!

Und ich bin zerrissen: Ich weiß, dieser Satz und dieses Verhalten sind absolut notwendig, damit wir gemeinsam das Virus in Schach halten und doch kann ich mir nicht vorstellen, dass das Gegenteil von Nähe heilsam sein kann. Meine Augen und mein Herz sind gefangen von dieser Farbenpracht, den Blumen und dem Schmetterling und ich denke: >>ja, so fröhlich-bunt lässt es sich vielleicht aushalten, dieser Abstand zu meinen Lieben.<<  Und die Vergewisserung, dass es aus Liebe geschieht!

Doch auf den 2ten Blick erkenne ich meine Zerrissenheit mit ihren widersprüchlichen Gefühlen:
– Wut steht ganz links-senkrecht, durch das u von „aus“
– Schmerz schlängelt sich aus der Mitte rechts hinüber, ausgehend vom s der „Nächstenliebe“, runter zum e des „gehen“
– Trauer schlängelt sich klein und dunkel durch das 2te a von „Abstand“
Ja, denke ich, das ist es: Abstandhalten aus Nächstenliebe und doch gleichzeitig spüren, wie heftig das gegen meine menschlichen Bedürfnisse spricht!

Diese Zerrissenheit ist kaum auszuhalten, bringt ihren eigenen Schmerz mit sich…..und manchmal auch eine ungeheure Kreativität an neuen Ideen, wie wir uns denn mit neuen Formen, Nah-Sein zeigen können! Dazu mag ein Aufbruch nötig sein, ein Aufbruch aus erstarrten Formen und Erwartungshaltungen.
Ein ungeheurer Aufbruch, ähnlich wie der der blutflüssigen Frau: sie empfängt nicht Jesu Nähe, wie er sich -genauso wie sonst immer- segnend über sie beugt, nein sie nimmt sich diese Nähe einfach!
Sie wagt den ersten Schritt und berührt Jesus: heimlich, in der Menge!!
Und Jesus spürt diese Berührung nicht nur, es ist ihm sofort klar: das war kein zufälliges in- und aneinander gedrängt werden im Menschengetümmel (was ja die Jünger meinen), sondern das war was Besonderes: eine heilende Kraft ist von ihm ausgegangen! Ganz neu und ganz anders als sonst!
Könnte es sein, dass wir die Chance haben, ganz und andere Formen von Nächstenliebe und Menschlichkeit, von Nah-Sein und Heilsam-Sein in dieser Corona-Krise zu entdecken?
Schon sind die Zeitungen voll alternativen Weihnachtsideen, die sich Gemeinden ausdenken, denn übervolle Christvespern und Krippenspiele wird und darf es nicht geben!
Kirchenferne Menschen unken schon rum, nach dem Motto „Weihnachten fällt aus“.
Genauso wie die Jünger unken: ist doch nichts passiert, nur Menschenmenge, die einen fast erdrückt!
Nein, Weihnachten fällt beileibe nicht aus. Es wird nur ganz, ganz anders!
Und wer weiß: vielleicht geht eine neue heilsame Kraft von diesem Weihnachtsfest 2020 aus, für die, die vertrauen und sich von Jesus nehmen, was sie brauchen. Amen

 

Predigt vom 25.10.2020

 

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