Predigt 1.0: In diesem Moment

Diesen Song von Roger Cicero habe ich bei den Trauerfeiern der verwaisten Eltern für die sogenannten „Sternenkinder“ kennen gelernt.
Also die Kinder, die das Licht der Welt nicht haben erblicken dürfen, sondern vorher gestorben sind.

Diese Gemeinschaftstrauerfeiern mit vielen jungen Paaren (auch Großeltern z.T.) finden vierteljährlich auf dem Öjendorfer Friedhof statt und oft wird dieses Lied gespielt.
Im Sommer 2016 ging es mir besonders unter die Haut, denn da war Roger Cicero selbst gerade verstorben.

„Und als einer von Millionen steh ich hier und schau nach oben.
Frag mich, wo du gerade bist und wie es da wohl ist“…..so fragen trauernde Menschen überall auf der Welt. Der Blick geht nach oben….auf der Suche nach einem Himmel…einem guten Ort…nach Sinn und Halt und Trost…..auf der Suche nach Gott?! Unser Blick geht suchend nach oben…in die Weite des Alls, weil unsere Verstorbenen sooo weit weg scheinen und dann ereilt uns dieses Paradox: „fühl ich, dass du gerade hier bist: in diesem Moment“
Der Tod führt in die Weite der Ewigkeit….und in diesen, jetzigen Moment!! In die Erfahrung, dass die Toten ganz nah bei uns…..und in uns sein können….jetzt: in diesem flüchtigen Moment.

Eine neue Beziehung entsteht….nicht mehr so wie vorher, nein, beileibe nicht,….aber genau dazu ist Trauer da, dass eine neue Beziehung entsteht, so dass wir mit unseren geliebten Toten leben können. „Bedenk den eignen Tod den stirbst du nur, doch mit dem Tod der anderen musst du leben“ sagt Mascha Kaleko, die berühmte deutsch-jüdische Dichterin des 20. Jahrhunderts in ihrem Gedicht „Memento“.

Soooo viel passiert in diesem Moment, überall auf der Welt und unsere eigenen inneren Momente grad jetzt und hier sind ganz unterschiedlich gefüllt….. von Sorge um die Welt….oder mit innerem Protest gegenüber populistischen Politikveränderungen hier bei uns, in Europa oder auch Amerika…..mit dankbarem Gefühl gegenüber 74 Jahren Frieden; die hinter uns liegen: so eine lange Friedensperiode gab es in Europa noch nie!
…..aber vielleicht auch in Gedanken an Friedhofs-besuche, weil grad kürzlich ein lieber Mensch gestorben ist und die Fragen sich nicht wegdrängen lassen nach dem Woher und Wohin und Wozu:
„Und als einer von Millionen
Steh ich hier und scheu nach oben
Frag mich, wo du gerade bist
Und wie es da wohl ist“
-singt Roger Cicero und indirekt ist darin natürlich die Frage verborgen: wohin werde ich mal gehen, wenn meine Sterbensstunde gekommen ist? Und wie ist es dort wohl. Und werden wir uns dort wieder sehen? Auch diese Frage ist darin verborgen. Für Eltern, die ein Kind verloren haben, ist das ein ganz wichtiger Ausblick: wenn es schon zu keinem gemeinsamen Leben in dieser Welt gekommen ist, dann tröstet die Hoffnung auf ein Wiedersehen -irgendwann und irgendwie…..das bleibt im Vagen und darf es auch. Auch christliche Auferstehungshoffnung ist nur ein Bild für das was kommt, wissen, beschreiben kann es die tiefste Glaubensgewissheit nicht.

Ähnliches ist auch Herbert Grönemeyer mit seinem Song „Mensch“ wiederfahren:

Staunend nehme ich wahr: so individuell Trauer auch ist…so sehr sie auch mit dem Gefühl einhergeht: „kein anderer versteht mich und kann nachvollziehen, was ich grad durchmache“, so weltumspannend offen für alle Menschen kann Trauer auch sein!
Popmusik und mehr noch mediale Inszenierungen wie bei Lady Di’s Trauerfeier oder bei Michael Jacksons Tod machen möglich, dass wir im Mitfühlen dieser „Fremdtrauer“ etwas von unseren eigenen Verlusterfahrungen verarbeiten. Was in unserem hektischen Alltag keinen Platz mehr hat, bewusste Trauerrituale, finden in der kollektiven Trauer um einen gemeinsamen angehimmelten Star ein -notwendiges, nämlich Not wendendes- Ventil! Das gelingt auch Roger Cicero, wenn er die Kostbarkeit eines jeden klitzekleinen Lebensmomentes besingt!
Diese Kostbarkeit lernen wir zu sehen, zu würdigen, zu schätzen, weil wir sterben müssen. „Gott, lehre uns bedenken dass wir sterben müssen, damit wir klug werden“ – betet der Beter des 90. Psalms und diese Klugheit, diese Weisheit führt uns in den ganz und gar gegenwärtigen Moment.

Das Gegenteil davon erleben und leben wir täglich: immer eilen unsere Gedanken voraus: ……habe ich alles eingekauft für den Besuch am Wochenende?….Wir machen uns Sorgen:……hoffentlich geht alles gut nächste Woche beim Bewerbungsgespräch….Wir planen den nächsten Urlaub…den nächsten Schritt auf der Karriereleiter….Schlaf- und Einschlafprobleme nehmen zu in unserer Gesellschaft, weil Menschen gefangen sind in ihren sorgenvollen Gedanken um die Zukunft ….. um die Zukunft ihres Arbeitsplatzes,….um die eigene Fitness und Kraft, noch lange mithalten zu können im gnadenlosen Wettlauf von Effizienz und Kompetenz.
Wir sind beschäftigt mit Kalkül,……mit dem „wenn – dann“: wenn ich so oder so rede/handle, dann wird das, was ich will, eintreten…..
Doch die Balance zwischen dem „wenn – dann“ ist durchaus fragil und beileibe nicht so berechenbar, wie wir’s gern hätten.
Und ob das geplante DANN dann wirklich so eintritt (?) ist genauso ein Problem, wie das, was unterschwellig dabei passiert, wenn wir so auf das „Dann“ fokussiert sind nämlich: dass wir das Hier und Jetzt verpassen, diesen gegenwärtigen Moment!
Das ist das Fatale an dieser Lebenshaltung. Dieser Text, dieses „In diesem Moment“ hat für mich durchaus evangeliumsgemäße Qualität!

Auch Jesus führt in der Begegnung mit ihm die Menschen ganz radikal in den gegenwärtigen Moment: jetzt bricht das Gottesreich unter euch an, sagt er…….jetzt ist deine Tochter geheilt….jetzt ist die Stunde der Entscheidung. Denken wir nur an die Segnung der Kinder: Jesus weiß, sie leben im Hier und Jetzt und er sagt: „Wer sich Gottes neue Welt nicht schenken lässt wie ein Kind, der wird niemals hineinkommen“ (Mk 10 oder Mt 19 oder Lk 18)
Wer kalkulatorisch mit dem Morgen beschäftigt ist, der verpasst diesen Moment….und das Reich Gottes! Das Evangelium macht frei, sich ganz und gar in diesen Moment hineinzugeben und das Morgen sich selbst zu überlassen.
„Quält euch nicht mit Gedanken an Morgen, der morgige Tag wird für sich selber sorgen“ O-Ton Jesus am Ende der Bergpredigt!
Und genau das berichten Menschen, die Schlimmes erlebt haben…..die eine schwere Krankheit überstanden haben……die einen geliebten Menschen haben loslassen müssen: dass sie durch diese tiefe Krise gelernt haben, das Leben bewusster zu genießen….Dass jeder Moment, besonders die kleinen unscheinbaren, ihnen kostbarer geworden sind und wichtiger als Erfolg und Ansehen und alles Geld der Welt!
Auch Roger Cicero stellt sich so dem Leben: in diesem Moment erlebt er alles, was wichtig ist.
Alles ist und darf sein: Ein Herz wird gebrochen und am Sterbebett wird gelacht.  Hoffnung wird geboren………….und Zwillinge. Ein Diktator wird altermild und Augen schließen sich für immer….und…und Fragen werden gestellt und irgendwo findet einer eine Antwort……vielleicht eine, die er gar nicht gesucht hat. In diesem Moment ist sooo viel möglich!

In diesem Moment der Zusammenschau entdeckt Roger Cicero zwar ein Licht am Ende des Tunnels, aber keinen Plan. Er stellt singend die Frage „nach dem großen Sinn, der die Welt durchzieht“ und vertraut darauf, dass sein Lied diese Frage durchs ganze All schwingen lässt. Ich denke, diese Melodie können wir mitsingen: Kommt von irgendwo her Antwort auf die Frage nach dem Sinn? Dem Woher, wozu und wohin?

Ich stehe an der Seite von Roger Cicero und sehe auch oft keinen Plan, keinen Sinn, und dennoch…..vertraue ich darauf, dass es einen Gott gibt, der das Leben nicht ins Leere laufen lassen wird. Das kleine Wörtchen „dennoch“ entfaltet schon seine große Kraft schon im 73. Psalm: „Dennoch bleibe ich stets bei dir, Gott, denn du hältst mich bei meiner rechten Hand; du leitest mich nach deinem Rat und nimmst mich am Ende mit Ehren an“.Dennoch glaube ich, dass Gott immer wieder neu etwas vorhat mit mir, mit uns, sogar über den Tod hinaus! Auch ohne Plan glaube ich dennoch, das ich Gottes Liebe zu uns am Leben, Sterben und Auferstehen Jesu ablesen kann.
Und dass diese Liebe Gottes mir in seltenen, kostbaren Momenten ganz nahe kommen kann und all meine Sehnsucht nach Sinn und Fülle stillt.
Dass alle Fragen ein Ende haben und ich keinen Plan mehr brauche, sondern ich einfach „Ja“ sagen zu diesem Leben und sogar zum Tod.
In diesem seltenen Moment fühl ich mich ganz eins mit diesem Moment! Amen

 

 

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