Predigt 2.4: Nachhaltigkeitsziel 10 – Recht und Gerechtigkeit

Hören wir zu Beginn auf die Geschichten von zwei jungen Frauen: Helga ist 19 Jahre alt. Sie macht sich fertig für die Abreise.  Sie packen alles auf einen Haufen, was mit soll.  Aber es ist viel zu viel. Sie sortieren aus. Immer noch zu viel. Es muss auf den Schlitten passen und in den Rucksack.
Der Koffer, die Betten. Sie müssen im Dunkeln packen. Verdunklung ist angeordnet. Nachts geht es los.  Die Schwester von Helga hat ein Kind im Wagen.  Die Mutter trägt, was sie kann. Die erste Wegstrecke durch die Nacht ist 43 km lang. Es ist sehr kalt.  Alle wollen nach Westen.
Von Fremden bekommen sie Käse und drei Brote geschenkt. Das vergisst sie nie. In Schwerin werden sie aufgenommen.

Joudy ist 15 Jahre alt. Ihr Haus, in dem sie mit ihrer Familie gelebt hat, liegt in Schutt und Asche.  Bomben waren gefallen.  Mehrere Nachbarn sind tot oder verletzt, auch eine Freundin von Joudy. Der Onkel gibt Geld.  Die Mutter und der Bruder gehen zu Verwandten in die Türkei.
Joudy macht sich mit ihrem Großvater auf den Weg.  Drei Tage und Nächte sind sie in einem Lkw-Container unterwegs. Sie hat Angst, dass sie im Container vergessen wird oder verhungern muss. Im Dunkeln betet sie oft.  Sie kommen nach Hamburg und dann in eine Erstaufnahme-
einrichtung in Schwerin.

Zwei junge Frauen, die ihre Heimat verlassen mussten. Zwei Frauen auf der Flucht:  Helga 1945 und Joudy 2015.

Zu allen Zeiten waren Menschen unterwegs.  Bei genauerem Hinsehen ist die Bibel ein Buch der Flüchtlinge und Migrantinnen,  sie erzählt von Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten. In den letzten Jahren und Monaten haben sich Männer, Frauen, Kinder nach Europa auf den Weg gemacht. Sie haben diese Strapazen auf sich genommen, weil sie in Not sind. Die Geflüchteten haben auch uns in Bewegung gesetzt.
Es ist beeindruckend zu sehen, wie viele Menschen sich tagtäglich in in der Betreuung und Begleitung von Asylsuchenden und Geflüchteten engagieren: sie unterrichten Deutsch, begleiten zu den Ämtern oder unterstützen sie, indem sie sie vertraut machen, wie die Dinge bei uns laufen.
Mir macht mein Engagement 1mal die Woche in einem Kunstprojekt mit Kindern ungeheuer viel Spaß!!

Andere dagegen sind verunsichert, haben Angst und machen sich Sorgen um die Zukunft. Wie geht es Ihnen mit diesen Nachrichten aus den Medien, mit den Menschen, denen Sie vor Ort begegnen? Macht das Christ-Sein die Begegnung einfacher? Oder sind dann die fremden Religionen und Hautfarben noch fremder?  Ist meine Art Christin zu sein vielleicht eine sehr deutsche Art?
Dazu suche ich Orientierung in den biblischen Texten. In diesen Zeiten höre und lese und höre ich die Worte noch einmal neu und unser Predigttext, den wir als Evangeliumslesung gehört haben, gewinnt eine neue Brisanz und Aktualität:
„Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit, dann wird er sagen: „Ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet.
Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen. Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einer oder einem von diesen meinen geringsten Schwestern und Brüdern, das habt ihr mir getan.“

In diesem Evangeliumstext wird das Wesen der Liebe entfaltet……über ein reines Gefühl hinaus ist sie eine Bewegung(!) hin zu den Fremden !!
Diese Bewegung gehört ins Zentrum jeder christlichen Gemeinde. Nicht nur die Liebe -nein, die sowieso, aber auch die Bewegung, das Aus-Sich-Herausgehen gehören unabdingbar zum Christentum dazu.

Jesus lehrt uns seinen Blick auf die Fremde an sich und auf fremde Menschen und verwandelt damit zugleich unsere Blicke, Sichtweisen und Ansichten. In jedem Menschen in Not, dem ihr begegnet, so sagt Jesus, begegnet ihr auch mir.  In dem Menschen in Not findet ihr mich. Hier findet ihr zu mir und zu Gott.

Dieser Text aus dem Matthäusevangelium steht direkt vor der Passionsgeschichte, die von Jesu Weg durch Leid und Kreuz bis zur Auferstehung am dritten Tage erzählt. Mittwoch war Aschermittwoch und nun sind wir drin in der Passions- und Fastenzeit, einer Zeit des besonderen Innehaltens und nicht nur Nachdenkens, sondern Nachsinnens über das, was Jesu Leidensweg mir heute sagen will??

Durch die Beschäftigung der letzten Jahre mit der Bestattungs- und Trauerkultur habe ich gelernt, dass aus diesem Matthäustext im Mittelalter die 7 tatkräftigen und die 7 geistigen Werke der Barmherzigkeit hervorgegangen sind. Sie galten in der mittelalterlichen katholischen Kirche, sie gelten heute in der katholischen Kirche, aber auch bei uns, denn sie haben die Reformation unbeschadet überstanden!!

Was verbinde ich mit Barmherzigkeit? Was verbinden Sie mit Barmherzigkeit? An welche Begebenheiten kann ich mich erinnern/können Sie sich erinnern, wo jemand barmherzig zu mir war? Wie barmherzig gehe ich mit mir selbst um? Wie barmherzig gehen Sie mit sich selbst um?

Die 2×7 Werke entfalten Barmherzigkeit in Wort und Tat folgendermaßen:
Die 7 tatkräftige Werke der Barmherzigkeit sind:
1. Hungrige speisen
2. Durstige tränken
3. Fremde beherbergen
4. Nackte kleiden
5. Kranke pflegen
6. Gefangene besuchen
7. Tote bestatten
Und die 7 geistige Werke der Barmherzigkeit sind:
1. die Unwissenden lehren
2. die Zweifelnden recht beraten
3. die Betrübten trösten
4. die Sünder zurechtweise
5. die Lästigen geduldig ertragen
6. denen, die uns beleidigen, verzeihen
7. für die Lebenden und die Toten beten

Das tatkräftige und das geistige Tun lässt sich nicht so recht auseinander dividieren, nicht wahr?!  Es sind 2 Seiten derselben Medaille! Barmherzigkeit braucht eben Beides. Dabei ist Barmherzigkeit ein Wort, das wir im Alltag selten verwenden. Manch eine/r kennt es vielleicht gar nicht mehr. In der Bibel begegnet uns das Wort Barmherzigkeit oft. Es durchzieht das Alte und das Neue Testament. Der Wortstamm von Barmherzigkeit heißt im Hebräischen „racham“ und ist verwandt mit dem Wort: Gebärmutter. Mit dem biblischen Ausdruck Barmherzigkeit ist also Wärme, Geborgenheit, Fürsorge, Schutz, Vertrauen, innige Verbundenheit gemeint – all das, was ein ungeborenes Kind im Mutterleib erlebt.

Von Gottes Barmherzigkeit singt der 103. Psalm (den Jesus als frommer Jude ja gut gekannt hat): „Lobe den Herrn meine Seele…..barmherzig  nd gnädig ist Gott, geduldig und von großer Güte.“ Das ist die Erfahrung der Menschen in der Bibel: Gott begleitet unsere Wege.
Gott wendet sich jeder und jedem von uns zu.  Gott schaut uns gnädig und barmherzig an.  Die Zuwendung Gottes zu uns Menschen ist immer stärker als das, was uns misslingt oder glückt.  Von dieser Zusage Gottes lebe ich. Diese Zusage stärkt mir den Rücken und speist mein Gottvertrauen.

Von dieser Barmherzigkeit Gottes wird im Alten Testament erzählt und Jesus reiht sich in diese Tradition ein! Davon kündet die Bergpredigt genauso wie so manches Gleichnis! Vertraute Geschichten werden in mir wach, z.B. die vom barmherzigen Samariter.
Mit solchen Geschichten macht Jesus Gottes Barmherzigkeit sichtbar und greifbar.

Worauf kommt es an in meinem Leben als Christin, als Christ? Was ist für mich/für Sie wesentlich im Glauben? Was ist die Richtschnur, das Geländer für mein Leben und Handeln als Christin? Manch eine/r antwortet vielleicht „die 10 Gebote“! Unser Predigttext heute konkretisiert oder auch ergänzt die 10 Gebote durch die 7 sog. Werke der Barmherzigkeit.  Sie zeigen an, was wichtig ist:  an der Seite der  notleidenden Menschen zu stehen, sich ihrer zu erbarmen – unabhängig von ihrer Religion, Herkunft, Hautfarbe.

Deshalb thematisieren die Hilfswerke der beiden großen Kirchen weltweite Notsituationen und Ungerechtigkeiten. Das evangelische Hilfswerk ist Brot für die Welt und das katholische Hilfswerk Misereor. Aber natürlich auch bei uns im Land gibt es Notsituationen. Was brauchen Menschen dann? Vor einigen Jahren hat es dazu eine Umfrage gegeben. Menschen in einer Notsituation sind gefragt worden
„Welches Werk der Barmherzigkeit wäre für Sie besonders wichtig/notwendig?“  Die Antworten sind interessant.  Die ersten 7 Plätze der herausgekommenen Hitliste lauten wie folgt:
1. Einem Menschen sagen: Du gehörst dazu.
2. Ich höre dir zu.
3. Ich rede gut über dich.
4. Ich gehe ein Stück mit dir.
5. Ich teile mit dir.
6. Ich besuche dich.
7. Ich bete für dich.

Das klingt sehr nah dran an den uralten, biblisch abgeleiteten Werken der Barmherzigkeit. Sie sind auch heute noch das, was die Welt braucht!

Dazu sind für mich als Protestantin auch immer wieder die Worte, aber vor allem die Gesten von Papst Franziskus
eindrücklich.  Z.B. ist er nach Lampedusa gereist und hat dort einen Strauß Blumen ins Mittelmeer geworfen und gesagt: Wir Europäer können nicht wegsehen, wir sind Teil des Flüchtlingsdramas.  Und auch die Beteiligung der Evangelischen Kirche am Kauf eines neuen Rettungsschiffes für den Einsatz im Mittelmeer wurzelt in diesem Jesuswort aus unserem heutigen Predigttext: „Ich bin fremd gewesen und ihr habt mich aufgenommen.“( und unser Bischof Bedford-Strom hat für dieses Engagement unserer Kirche im Internet Morddrohungen bekommen!)

Jesus Christus hat nur unsere Hände, damit heute sein Werk getan wird!  Sein Wirken wird konkret in dem, was jede und jeder von uns tut; wenn ich/wenn wir mich/uns leiten lasse von einer Herzenshaltung, die sich aus Barmherzigkeit speist. Dazu gibt Gott uns seine Kraft.
Wir können darauf vertrauen, dass „Gott uns Menschen mit einem weichen Herz beschenkt, das Barmherzigkeit kennt. Einem Herz, das die verkrampften Hände öffnet. Einem Herz, das freundlich und voller Wärme in die Welt blickt.“ Amen

Predigttext: Matthäus 25, 31-46

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