Trauerkultur mitten im Leben II

Das Telefon klingelt und ein unsichere, zögerliche Stimme fragt um Rat. Eine junge Frau gibt sich zu erkennen als Mensch mit Assistenzbedarf. Sie kommt mit dem Gedanken nicht zurecht, dass eines Tages ihre Eltern sterben werden. Noch ist es noch gar nicht soweit, aber man weiß ja nie. „Wo soll ich hin“, fragt sie, „Z.B. zu Weihnachten?“ Ansonsten ist sie gut untergebracht in einer betreuten Wohngemeinschaft. Aber sonntags oder zu besonderen Festen ist es eben noch da: das Zuhause, das Elternhaus.
Und nun macht sie sich Sorgen.
Eigentlich teilen wir alle diese Sorge! Aber oft genug setzen wir uns ihr nicht aus. Schütteln sie ab: ist ja noch nicht soweit. Nichts ist so sicher, als dass eines Tages dieser Tag kommen wird. Doch wir tun, als gäbe es unsere Endlichkeit nicht. „Gott lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, damit wir klug werden“ sagt die Bibel im 90. Psalm.
Das genau ist ja Trauerkultur: eine Haltung, die mitten im Leben den Tod nicht ausblendet, sondern sich mit ihm auseinandersetzt. Die Aktion „Before I die – bevor ich sterbe, möchte ich“ fällt mir ein:
An einer Hauswand oder aufgestellten Tafel haben Passanten die Möglichkeit, diesen Satzanfang mit ihren ganz persönlichen Lebenswünschen zu beenden. Mitten im Leben, mitten im Alltag, mitten auf der Straße sich schon der letzten und wichtigsten Wünsche bewusst zu werden, anstatt am Ende zu sagen „Ach, hätte ich doch….“, das war das Anliegen der Künstlerin Candy Shang. Nach dem Verlust eines geliebten Menschen befestigte sie an einer Hauswand eine Tafel, die mehrfach mit dem immer gleichlautenden Satzanfang bedruckt war: „Before I die I want to……“ Daneben stellte sie eine Schale mit Schulkreide; Passanten schrieben spontan ihre Gedanken auf die Tafel. Das Kunstprojekt ging um die Welt und mehr als 1000 „Before I die-Wände“ wurden in 35 Sprachen und über 70 Ländern errichtet und beschrieben und im Frühsommer 2017 auch in Hamburg und Reinbek.
Bevor ich sterbe möchte ich…… über mich lächeln können…….eine Schiffsreise machen……..meinen Mann heiraten….Jesus annehmen……Kinder bekommen…..das Michael-Jackson-Denkmal in München besuchen…..Großmutter werden…..ein Evelyn Glennie Konzert besuchen…..oder eben mich mit der Sterblichkeit meiner älter werdenden Eltern aussöhnen.

Die junge Anruferin hat mich in ihre WG eingeladen, damit wir über ihre Ängste und Sorgen reden können. Sie will sich vorbereiten auf den Tag X. Ich bin tief berührt, wie viel Lebensweisheit mir entgegenschwingt.

 

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