Heilig Abend auf dem Friedhof

 

Den Heiligen Abend verbringe ich auf dem Friedhof: an den Gräbern begrüße ich die Menschen, verteile kleine Schutzengel-Kerzen und mein neues Jahresprogramm. Wünsche frohe Weihnachten und immer wieder ergibt sich ein Gespräch, das schnell in die Tiefe geht.
Für viele Menschen gehört der Friedhofsbesuch einfach zum Heiligen Abend dazu. Erst danach kann gemütlich Kaffee getrunken werden, erst danach ist man innerlich bereit für Kirchgang und/oder Bescherung. Das finde ich prima!
Und einer der Friedhofsbesucher spricht es aus: „die gehören doch dazu zu Weihnachten!“ und er meint all die verstorbenen Familienangehörigen. Ja, denke ich und ein Bild von Lukas Cranach fällt mir ein: nicht die heilige Familie = Maria, Josef und das Kind, sondern „die heilige Sippe“! 17 Personen feiern bei Cranach den 1. Geburtstag des Jesuskindes und Verstorbene sind auch mit dabei!
Gerade weil Weihnachten in der Geburt des Kindes uns allen die Möglichkeit eines Neuanfangs verspricht, wiegen die uns vorausgegangenen Familienangehörigen so schwer auf der Seele. Wir sind Teil eines in Gegenwart und Vergangenheit ausgestreckten Beziehungsnetzes und dieses Beziehungsnetz ist Teil von uns! Die Ahnen und  hat unsere jeweilige Persönlichkeit geprägt! Und verstorbene, liebe Menschen sitzen mit unterm Weihnachtsbaum.
Gerade deshalb wohl ist dieses Fest so emotional aufgeladen, weil auch Tante Gertrud und Onkel Heinz und Opa Fritz ganz nah dabei sind.
Deshalb ist es  wichtig dem, was sowieso latent mitschwingt, in einem Ritual Gestalt zu geben. Und der Friedhofsbesuch am Heiligen
Abend ist so ein Ritual, das der Seele gut tut und der Weihnachtsfreude Raum verschafft.
Ich treffe auf 2 alte Damen: die halbe Familie liegt hier: die Eltern der einen (sind die Schwiegereltern der anderen) und der Ehemann der
anderen (ist der Bruder der einen).Liebevoll hegen und pflegen sie die nebeneinander liegenden Gräber. Kerzen und Plastikblumen zuhauf.
Schräg gegenüber auf einem anderen Grabfeld treffe ich auf eine jüngere Frau, die Eltern und Großeltern besucht und mir von früheren
Familien-Weihnachtsfesten erzählt. Dabei laufen ihr die Tränen übers Gesicht. Ja, Weihnachten kommt ganz viel hoch, was wir sonst im Alltag verdrängen. Weihnachten, da geht’s nicht um funktionieren, da geht’s ums Sein!

Da kommt von ferne mit schnellem Schritt die eine der beiden älteren Damen noch mal auf mich zu, wedelt mit einem Zettel in der Hand und
ruft: „Schauen Sie mal, Frau Pastorin, was ich Weihnachten immer mache: Ich lese meinen Eltern die Weihnachtsgeschichte vor!“
Und ich erkenne in dem „Zettel“ das 2. Kapitel des Lukas-Evangeliums,herausgeschnitten aus einem Buch oder Kalender. Und ich bin seltsam berührt bei diesem Bild der beiden älteren Damen, wie sie seit Jahr und Tag bei Wind und Wetter auf dem Friedhof stehen und ihren eigenen kleinen Weihnachtsgottesdienst feiern und die Botschaft des Engels erklingen lassen: „Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“

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