Grabsteine erzählen 1.6 oder: die betenden Hände

 

Wer über einen Friedhof spaziert, wird auf sie stoßen: Dürers betende Hände! In vielfältigen Formen verzieren sie Grabsteine. Und wer sie entdeckt, wird vielleicht unweigerlich mit Erinnerungen und inneren Bildern konfrontiert:
Vielleicht hingen sie irgendwo im Elternhaus? Oder bei der Großmutter in der guten Stube? Möglicherweise waren sie aber auch auf einer Tauf- oder Konfirmationsurkunde? Der eigenen oder von Familienmitgliedern früherer Generationen -gerade noch war man in einer Schublade beim Aufräumen drüber gestolpert. Oder sie hingen als Hochzeitsgeschenk über einem Ehebett? Oder man selbst oder ein guter Freund/eine gute Freundin trägt dieses Motiv „die betenden Hände“ am Körper tätowiert?
Unterschiedlichste Gefühle können diese aufsteigenden Erinnerungsbilder begleiten: warme, anheimelnde……oder tröstliche? (Dass da jemand ist, der für einen betet, wenn der Haussegen mal schief hängt)……oder gruselige, weil die Finger so hager, knochig, fast skelettartig sind…..oder ärgerliche (weil der unausgesprochene Vorwurf im Raum ist: „man sollte vielleicht mal ein bisschen mehr beten!“)
Wie immer ich empfinde beim Anblick der betenden Hände, ich weiß: damit bin ich nicht allein.
2008 veranstalteten die „Nürnberger Nachrichten“ eine Umfrage zu den betenden Händen unter den Leserinnen und Lesern und genau solche Antworten sind da gekommen.z.B.:
* “ als Dank für die Geburt meines Sohnes habe ich mir die betenden Hände eintätowieren lassen“.
* „Die betenden Hände habe ich als Urkunde zur Konfirmation am 29. März 1942 bekommen im 3. Kriegswinter, als ich den Vater, der im Krieg an der Ostfront war sooo sehr vermisste.“
* „Schrecklich fand ich die. Sie passten im Elternhaus so gar nicht zur Tapete. Und dann diese Hände ohne Körper: sehr befremdlich!!“

Nicht nur auf dem Friedhof sind die betenden Hände zahlreich zu finden, sondern überall im Leben, in den -die Generationen verbindenden- Erinnerungen vieler Menschen. Und auch als Talisman am Schlüsselbund oder als magnetischer Sticker am Armaturenbrett im Auto.

Dabei sind diese betenden Hände schon über 500 Jahre alt.
Der Nürnberger Künstler Albrecht Dürer, ein Zeitgenosse Luthers, der mit den Ideen der Reformation und des Humanismus sympathisierte, hat sie 1508 angefertigt als Skizze, als Vorstudie für ein prächtiges Altarbild: dort kniet vor dem Bild von Marien’s Himmelfahrt ein Apostel im roten Mantel und erhebt seine Hände zum Gebet. Er betet nicht mit gefalteten Händen, so wie wir heute meist, sondern mit eben diesen in der Skizze körperlosen Händen, für die Dürer seine eigene linke Hand als Vorlage genommen haben soll, die er mittels Spiegel verdoppelte.
Der Altar wurde 1729 bei einem Brand zerstört (Entwurfsskizzen existieren noch im Historischen Museum der Stadt Frankfurt) und dadurch wurden die betenden Hände von ihrem Kontext gelöst.
Sie wurden zu einem sog. offenen Kunstwerk: Anstelle des Apostelkörpers trat eine „Leerstelle“ mit der Chance, dass ich, der Betrachter, die Betrachterin sich diese betenden Hände zu eigen machen kann.
Sie gehören zu Niemandem; d.h. sie gehören uns allen. Das macht ihren besonderen Reiz aus.
Allerdings bleiben die betenden Hände erst mal Jahrhunderte lang in der Skizzenschublade unbedeutsam liegen.
Erst im 19. Jahrhundert mit dem Jahr der Reichsgründung 1871 wurden die betenden Hände in Deutschland nicht nur populär, nein sie wurden sehr schnell zu einem nationalen Symbol:
Dürer wurde zum Urbild des deutschen Künstlers und seine betenden Hände zu einem deutschen Symbol, das später von den Nazis gerne weiterbenutzt wurde. Und seit den 20ger Jahren gab es die betenden Hände auch als dreidimensionales Relief in Holz oder Keramik oder Stein. Genauso wie sie auf den Grabsteinen ganz unterschiedlich gestaltet sind: reliefartig, einzisilliert, farbig…..
In den 70ger und 80ger Jahren des letzten Jahrhunderts tauchen die betenden Hände scheinbar plötzlich in den US-amerikanischen Strafanstalten als beliebtes Graffitti und Tattoo-Symbol auf! Sogar mit Bierflasche in der Hand!
Die betenden Händen heute weisen zurück auf die Ursprünge unserer Bestattungskultur wie sie in der mittelalterlichen katholischen Kirche in den 7 tatkräftigen Werken der Barmherzigkeit und den 7 geistigen Werken der Barmherzigkeit aufgeschriebenen sind. Die Reformation hat an ihnen nichts geändert. Sie sind heute noch Bestandteil der protestantischen Lehre, weil sie auf einen Bibeltext im Matthäusevangelium zurückgehen: auf die Rede Jesu über das Urteilen des Weltenrichters (Kapitel 25):
Die 7 tatkräftige Werke der Barmherzigkeit sind:
1. Hungrige speisen
2. Durstige tränken
3. Fremde beherbergen
4. Nackte kleiden
5. Kranke pflegen
6. Gefangene besuchen
7. Tote bestatten
Und die 7 geistige Werke der Barmherzigkeit sind:
1. die Unwissenden lehren
2. die Zweifelnden recht beraten
3. die Betrübten trösten
4. die Sünder zurechtweise
5. die Lästigen geduldig ertragen
6. denen, die uns beleidigen, verzeihen
7. für die Lebenden und die Toten beten

Der Friedhof ist sicherlich ein Ort, an dem so manches Gebet laut hinausgeweint oder stumm und innerlich gesprochen wird. Manch eine/r ertappt sich beim Beten, der/die sonst gar nicht dazu neigt.
Das stumme Gebet der betenden Hände verbindet nicht nur Generationen, sondern auch Lebende und Tote. In allen Gottesdiensten steht die Fürbitte für dieses Gedenken an Lebende, Sterbende und Tote ein. Und im Glaubensbekenntnis bekommen Lebende und Tote sogar noch einen besonderen Platz:  sie bilden gemeinsam die „Gemeinschaft der Heiligen“ .
Das Gebet/die betenden Hände ist Zeichen und Ausdruck des christlichen Glaubens, dass bei Gott Niemand verloren geht. Wir alle, Lebende und Tote, sind aufgeschrieben in Gottes großes Lebensbuch (siehe Grabsteine erzählen VII)

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