Bestattungen von Amts wegen II: Gastbeitrag Stefan Richter, Pastor der Herrnhuter Brüdergemeine Hamburg

Am zweiten Dienstagmorgen im Januar auf dem Öjendorfer Friedhof in Hamburg. Um 8:30 Uhr. Es regnet. Um diese Zeit ist kaum jemand an diesem Ort. Ich bin da. Denn ich hatte mich gemeldet für die Bestattungen von Amts wegen. Auf einem Grasfeld, am Rande des Friedhofs, sind etliche offene Holzkisten aufgereiht. In je einer Kiste nicht mehr als vier Urnen. Insgesamt sind es an diesem Morgen 30 Urnen. Auf einem Blatt Papier, das ein Mitarbeiter des Friedhofs in der Hand hält, stehen 30 Namen. Hinter den Namen steht außer dem Alter der Verstorbenen nichts. Der Jüngste 39, die Älteste 92. Ansonsten: Keine Daten aus dem Lebenslauf. Kein Beruf. Nichts. Überhaupt nichts. 30 Leute. In den vergangenen Wochen heimgegangen. Einsam? Allein? Jedenfalls haben die Behörden keine Angehörigen ausmachen können, die zu diesen Seelen gehören. Irgendwo in Hamburg. Keine Verwandten auffindbar. Niemand, der die Verantwortung für Beerdigung oder Bestattung hätte übernehmen können. In solchen Fällen tritt der Staat ein und veranlasst eine Bestattung von Amts wegen. Um ganz am Schluss des Lebens diesen Menschen einen mehr oder weniger würdevollen Abschied zu gewähren. Deshalb ist auch ein Pastor oder eine Pastorin dabei. Ich stelle mich vor die aufgereihten Kisten. Neben mir der Friedhofsmitarbeiter. Sonst niemand. Ich beginne mit dem Eingangspruch der Brüdergemein-Liturgie am Grab. „Jesus Christus spricht: Ich bin die Auferstehung und das Leben…“ Im Anschluss bete ich und lege alles in Gottes Hand. Und dann werden die Namen von dem Mitarbeiter verlesen. Zum Abschluss lese ich Psalm 23, wir beten zu zweit das Vaterunser und ich spreche den Segen. Das Ganze dauert nicht viel länger als 10 Minuten. Danach erscheinen weitere Friedhofsmitarbeiter und bringen die Urnen eine nach der anderen unter die Erde. Bevor ich mich zu diesem Dienst gemeldet hatte, wusste ich gar nicht, dass es so etwas gibt. Auf einem Konvent des Kirchenkreises Alster-Ost, den ich hin und wieder – wenn es passt – besuche, wurde die Frage gestellt, ob es neben denen, die diesen Dienst bereits versehen, weitere Pastorinnen und Pastoren gibt, die sich dafür zur Verfügung stellen. Ich meldete mich und war im Team. Natürlich kamen dann die Fragen: Was macht man dann da auf dem Friedhof? So allein. Ohne Gemeinde. Ohne Gesang. Ohne feste Liturgie. Welchen Sinn macht das? Was sagt man da? Haben Worte da überhaupt einen Platz? Wäre Schweigen nicht angebrachter und ehrlicher, da man ja am Grab doch nichts mehr gradebiegen, nachholen oder zurechtrücken kann? Gibt es Worte? Und: Lässt sich so etwas wie das Eingebunden-Sein in den Leib Christi, also in eine Gemeinde, für Alleingelassene darstellen? Und überhaupt: Was haben denn diese Menschen zu Lebzeiten geglaubt? Haben sie geglaubt? 30 Menschen. Und wir zwei, der Mitarbeiter und ich. Allein auf einem Friedhof. Nun, wir sind nicht allein. Außer uns ist die obere Gemeinde versammelt. Und Gott. Das ist mein Glaube. Das ist das, was mich anhält, das in meinem Herzen letztgültige Wort über das Leben von Menschen auszusprechen: Jesus lebt und wir mit ihm. Auch wenn dieses Wort im Hier und Jetzt für die Verstorbenen nichts mehr austrägt: Bei einer Beisetzung kann ich mich an Gott wenden mit Dank, mit allen Fragen und mit allem Ungeklärten – und ich kann um Gnade bitten – und dieses letzte Wort sagen: Gottes Wort. Ein gutes Wort. Segen. Frieden. Und zum Abschluss dann das „Amen“ zweier Menschen – der Friedhofsmitarbeiter und ich – , die im Glauben verbunden sind, dass Gottes Liebe größer ist als unsere Einsamkeit, unser Verlorensein und unsere Sprachlosigkeit angesichts von Leid und Schmerz in dieser Welt. Dazu zwitschern ein paar Vögel in den Bäumen auf dem Friedhof und hinten irgendwo sehe ich zwei Kaninchen hoppeln. Die Regentropfen lassen mich an Tränen denken. Monatsspruch Februar: Ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. Römer 8,18 Paulus hat an bestimmte Menschen gedacht, als er das aufschrieb. An Christen. Dieses Wort aber strahlt herüber aus alter Zeit auch in solche Situationen wie diese auf dem Friedhof. Und da finde ich den Regen überhaupt nicht schlimm, denn ich vertraue darauf, dass hinter den Wolken der Himmel weit, weit geöffnet ist – weiter jedenfalls, als ich ermessen kann.

 

 

Kommentare zum Beitrag

Kommentieren Sie

Name:
E-Mail (wird nicht veröffentlicht):
Kommentar: