Bestattungen von Amts wegen I: Dienstag früh

 

Nebelschwaden wabern über Rasenflächen und zwischen den Büschen. Noch ist es nicht richtig hell. Ein beliebiger Dienstagmorgen im Winter. Kurz nach 8 Uhr. Ich fahre über den Öjendorfer Friedhof zu meinem Einsatzort. Noch sind die Grabsteine kaum auszumachen in dieser dunklen Stimmung, aber zahlreich flackern Grablichter rot und orange durch die gartenarchitektonisch gestaltete Trauerlandschaft. Schön wirken diese Lichter. Lebendig irgendwie. Ich bekomme ein Gespür für die Seelen der zahlreichen Verstorbenen, die hier seit gut 50 Jahren ihre letzte Ruhestätte gefunden haben. Tagsüber wirken die Grablichter nicht so auf mich. Katholisches Brauchtum auf einem säkularen Friedhof verblüfft mich eher.
Aber in dieser Stimmung zwischen Tag und Nacht ist alles anders.
Die „Bestattung von Amts wegen ohne Begleitung“ liegt vor mir. 30 Urnen von Menschen, für die zum Zeitpunkt ihres Todes keine bestattungspflichtigen Angehörigen gefunden werden konnten.
Im Volksmund (und leider auch in der Presse) werden sie oft „Einsamenbestattungen“ genannt. Aber weiß ich das, ob diese Menschen einsam waren?
Hochaltrige sind darunter, die vielleicht ihre eigenen Kinder überlebt haben, im Heim sehr sozial eingebunden und beliebt, also gar nicht einsam, aber die Zimmernachbarin und auch die Pflegekraft sind ja nicht bestattungspflichtig.

Auch als „Obdachlosenbestattung“ sind sie bekannt, aber beileibe nicht alle waren obdachlos. Sicherlich der eine oder die andere mag einsam und/oder obdachlos gewesen sein, aber Verallgemeinerungen halte ich nicht für angebracht.

Angekommen am Bestattungsfeld ziehe ich am Straßenrand meinen Hamburger Ornat über. Die Friedhofsmitarbeiter warten schon auf mich. Einer von ihnen unterstützt meine Andacht, die andern ziehen sich zurück und rauchen hinter der Hecke eine. Die Beisetzung kann beginnen: Gebet und Psalm, Aussegnung und Namensnennung vor Gott. Zwischen den Namen bitte ich Gott um sein Erbarmen und singe das Kyrieeleison. Eigentlich kann ich gar nicht singen, aber hier geht’s: allein (fast), ausgeliefert der Natur im Morgengrauen bei Wind und Nebel, Regen oder Schnee, Sonnenaufgang und erstem Vogelgezwitscher fühl ich mich wie am Anfang der Schöpfung und auf geheimnisvolle Weise meinem Gott ganz nah.
Und auch den Verstorbenen, von deren Leben ich nichts weiß. Viele östlich klingende, kaum auszusprechende Namen sind dabei. Frauen auch mit Geburts- und Ehenamen: also da gab es mal gemeinschaftliches Leben – was ist geblieben?
Auch ich habe „nur“ einen Sohn. Was ist, wenn ein Geisterfahrer ihn in 20 Jahren auf der Autobahn tot fährt? Wer bestattet mich dann? Und ich hoffe, dass es auch in 20,25 Jahren Kollegen und Kolleginnen gibt, die mich dann mit derselben Würde bestatten, wie wir (ein Kreis von 8 evangelischen und 2 röm.-katholischen Geistlichen) das heute tun. Mit Vater Unser und Segen schließt die kleine Beisetzungsfeier. Irgendwie beglückt fahre ich zum Frühstücken nach Haus und habe Kraft für den ganzen Tag. Und durch die Bäume und Büsche geht die Sonne auf.

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